Autor Hubert Nowatzki (ehem. Steuerfahnder, heute Steuerberater): „Die Bürokratie behindert unsere Demokratie, zerstört unsere Gesellschaft und beeinträchtigt unser Leben in einem schier unerträglichen Maße.“
„Wie Bürokratismus unsere Gesellschaft zerstört“, Andreas Dripke, Hubert Nowatzki, 260 Seiten, ISBN 978-3-947818-89-1
Frankfurt, 3. Februar 2022 – Der ehemalige Steuerfahnder und heutige Steuerberater Hubert Nowatzki und der UNO-Berater Andreas Dripke setzen sich in ihrem neuen Buch „Der Wahn mit der Bürokratie“ damit auseinander, „wie der Bürokratismus unsere Gesellschaft zerstört“ (so der Untertitel).
Hubert Nowatzki sagt: „Egal, wohin wir blicken, vom Deutschen Bundestag bis zu den Vereinten Nationen: Die Regulierungswut einer ausufernden Bürokratie scheint nicht mehr zu bremsen. Jede noch so gute Idee wird in einem Wust von Vorschriften, Formularen und kleinlicher Überwachung zermürbt, bis von der einstmals grandiosen Vision – ob es nun um die Parlamentarische Demokratie oder den Weltfrieden geht – kaum noch etwas zu sehen ist.“ Ein Streifzug durch die Entwicklung der Öffentlichen Verwaltung von der Kameralistik bis zum sogenannten neuen Steuermodell bleibt am Ende bei der Erkenntnis des langjährigen Bundesministers Thomas de Maizière hängen, der 2021 anmahnte: „All das zeigt, dass es nötig ist, über die Frage einer großen Staatsreform, jetzt zu reden.“ Nach Auffassung der Autoren war allerdings schon bei de Maizières Amtsantritt als Staatssekretär mehr als 30 Jahre zuvor eine Verwaltungsreform überfällig.
Aberwitziges Amtsdeutsch
Das Buch ist gespickt mit einer Vielzahl aberwitziger Beispiele für Behördenwahn. Dazu gehört das Amtsdeutsch: Der Zaun ist eine „nicht lebende Einfriedung“, der Baum ein „raumübergreifendes Großgrün“, die Schubkarre ein „einachsiger Dreiseitenkipper“, das Drehkreuz eine „Personenvereinzelungsanlage“, die Verkehrsampel eine „bedarfsgesteuerte Fußgängerfurt“ und – tatsächlich! – das Stammbuch eine „Lebensberechtigungsbescheinigung“. Aus einer „Kopie“ wird im amtlichen Jargon ein „Mehrstück“, die Möglichkeit, eine Leiter an eine Wand zu lehnen, heißt beim Amt „Anleiterbarkeit“, die Ablehnung eines Antrags wird zur „Versagung“, ein Transport per Hubschrauber, etwa bei einem medizinischen Notfall, zur „Luftverlastung“. Hubert Nowatzki fordert: „Ein bundesweit einheitliches Amtsdeutsch mit möglichst einfachen und praxisnahen Begriffen wäre eine wichtige Maßnahme gegen den Wahn der Bürokratie.“
„Demokratie vereinfachen, nicht beschneiden“
Die Autoren des Buches kritisieren nicht nur, sondern zeigen auch die dahintersteckenden strukturellen Probleme auf und unterbreiten Lösungsvorschläge. Dazu gehört unter anderem eine Verkleinerung des Deutschen Bundestages. Sie verweisen darauf, dass das deutsche Parlament mit derzeit 735 Abgeordneten für 83,2 Millionen Deutsche so groß wie nie zuvor ist und um 23 Prozent über der seit 2002 geltenden Richtgröße von 598 Abgeordneten liegt. Zum Vergleich: In den USA genügen 535 Mitglieder im Kongress, um eine lebendige Demokratie mit 330 Millionen Einwohnern aufrecht zu erhalten. Als wesentlichen Grund für den XL-Bundestag machen die Autoren das besonders bürokratische Wahlsystem in Deutschland verantwortlich und unterbreiten auch gleich einen Vorschlag: In den derzeit 299 Wahlkreisen sollten 299 Abgeordnete nach dem Prinzip „Wer die meisten Stimmen bekommt, gewinnt“ direkt gewählt werden. Doch statt dieses einfachen Systems ziehen im deutschen Wahlsystem viele Abgeordnete über Landeslisten ein oder werden durch Kumulieren oder Panaschieren zu Parlamentariern, monieren Dripke und Nowatzki. Panaschieren bezeichnet „die Möglichkeit bei Personen-Mehrstimmwahlsystemen mit freier Liste seine Stimmen auf Kandidaten verschiedener Listen zu verteilen“. Dazu Hubert Nowatzki: „Wer kein ausgemachter Bürokratie-Experte ist, stößt schon bei den Grundlagen unserer Demokratie, nämlich dem Wahlsystem, an Verständnisschwierigkeiten.“ Die für 2025 in Aussicht gestellte Wahlreform – dann soll die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 280 reduziert werden – hält Nowatzki für den falschen Weg. Er kritisiert: „Es geht darum, das System zu vereinfachen, nicht die Demokratie zu beschneiden.“
Qualität der Gesetze befindet sich im Sinkflug
Anhand eingängiger Beispiele legen die Autoren dar, dass in den letzten Jahren zwar das Parlament an Größe gewonnen hat, aber die Qualität der vom Bundestag verabschiedeten Gesetze eher im Sinkflug begriffen ist. Hierzu urteilen Dripke und Nowatzki nicht selbst, sondern verweisen auf eine Reihe von Vorlagebeschlüssen des Bundesfinanzhofs (BFH) an das Bundesverfassungsgericht, in denen der BFH dem Gesetzgeber erhebliche Qualitätsmängel testiert. So schrieb der BFH beispielsweise über das sogenannte Steuerentlastungsgesetz: „Inhalt und Systematik der Vorschrift erschließen sich bei hoher Fehleranfälligkeit allenfalls mit subtiler Sachkenntnis, außerordentlichen methodischen Fähigkeiten und einer gewissen Lust zum Lösen von Denksportaufgaben.“ Und weiter monierte der BFH: „Die Mindeststeuerregelung ist unverständlich, widersprüchlich, unpraktikabel und nicht mehr justiziabel. Der chaotische Wortlaut ist ein Paradebeispiel für die Verletzung des Gebots der Normenklarheit, eine Meisterleistung an Verschleierungskunst.“
EU-Bürokratismus treibt einer neuen Blütezeit entgegen
Wie man es in einem Buch zu diesem Thema erwartet, bekommt auch die Europäische Union („von der Vision zum Bürokratie-Monster“) ihr Fett weg, etwa bei den Richtlinien für die Mindestlängen von Gurken (14 Zentimeter) und Kondomen (16 Zentimeter). Dem Argument der Bürokraten, dass die EU-Normen der heimischen Wirtschaft Vorteile verschafften („wer die Standards setzt, gewinnt den Markt“), widersprechen die Autoren mit Fakten: Von den hundert wertvollsten Unternehmen der Welt kommen lediglich zwölf aus der Europäischen Union (und übrigens nur zwei aus Deutschland). Dennoch treibt der EU-Bürokratismus einer neuen Blütezeit entgegen, analysieren Dripke und Nowatzki. Beispielhaft ziehen sie die neue Taxonomie heran, ein EU-weites Klassifizierungssystem für die Bewertung ökologischer Nachhaltigkeit wirtschaftlicher Aktivitäten. „Dem Green Deal, der bereits ein äußerst umfangreiches Vorschriftenpaket umfasst, mit der Taxonomie ein zweites ebenso großes Bürokratiemonster nachzuschicken, führt zu den wahrscheinlich höchsten Papierbergen auf der Erde“, sagt Andreas Dripke, und fügt hinzu: „Wer ein 667 Seiten umfassendes Regelwerk auf einem Fundament aufbaut, bei dem grundlegende Fragen, etwa bezüglich der Einordnung von Kern- und Gaskraftwerken, politisch und gesellschaftlich höchst umstritten sind, ist entweder sehr mutig oder sehr… .“
Kampf gegen Corona: Undurchsichtig, unlogisch und unverständlich
Über das staatliche Agieren in der Pandemie heißt es in dem Buch (Zitat): Die Staatsmacht, vom Bundestag über die Landesbehörden bis zum Landrat im Nirgendwo, hat mit atemberaubender Geschwindigkeit ein undurchsichtiges und in weiten Teilen unlogisches und unverständliches Regeldickicht hervorgebracht. Zu den unzähligen kuriosen Beispielen zählt der im Rahmen der Kontaktbeschränkungen verwendete Begriff des „engsten Familienkreises“. Offenbar ist dem Gesetzgeber selbst im Nachhinein aufgegangen, dass dieser Begriff viel Interpretationsspielraum offenlässt, und er hat ihn mit Beispielen erklärt – doch die galten nicht in allen Bundesländern einheitlich. So hat Berlin beispielsweise zeitweise auch Menschen zur Familie erklärt, „die nicht im zivilrechtlichen Sinn enge Verwandte sind“. Das führte dazu, dass angeheiratete Ehepartner nicht an Familienfeiern etwa zu Weihnachten teilnehmen konnten, Freunde aber sehr wohl. Ebenso unverständlich: Gaststätten mussten trotz 1,5 Meter Abstand zwischen den Tischen wegen Ansteckungsgefahr schließen, aber im Flugzeug, wo die Menschen dicht gedrängt beieinandersaßen, wurden Mahlzeiten ausgeteilt. Diese Liste ließe sich beliebig verlängern. Der Staat war außer Rand und Band, heftig befallen von einem Regelwahn, der sich mindestens ebenso schnell ausbreitete wie das Virus.
Der Bürger geht ins Gefängnis, der Beamte wird gelobt
Immer wieder zeigen Andreas Dripke und Hubert Nowatzki auf, wie sich der Staat Rechte herausnimmt, die er seinen Bürgern verbietet. Dazu gehört beispielsweise die Datenhehlerei, also die Nutzung von Daten, die durch eine rechtswidrige Tat erlangt wurden. Bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe drohen bei Zuwiderhandlungen – außer, der Staat betätigt sich selbst als Datenhehler, um gestohlene Datenträger anzukaufen und dadurch Steuersünder ausfindig zu machen. Steuerberater Hubert Nowatzki empört sich: „Der Bürger geht dafür ins Gefängnis, der Finanzbeamte erhält eine Belobigung. Wer sich angesichts eines solchen Rechtssystems über Staatsverdrossenheit beklagt, dem ist der gesunde Menschenverstand abhandengekommen.“
Ein Witz geht seinen Amtsweg
Die Autoren können es sich nicht verkneifen, einige besonders kuriose Fälle des Bürokratismus anzuführen. Dazu gehört die Anerkennung der „Kirche des Fliegenden Spaghettimonsters Deutschland“ (KdFSMD) als eine nach deutschem Recht den Religionsgemeinschaften – also etwa der Kirche – gleichgestellte Weltanschauungsgemeinschaft. Mit dem Fall hatten sich unter anderem das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befasst. Das Örtchen Templin in der Uckermark gewann weltweite Beachtung, als die KdFSMD am Ortseingang auf einem offiziellen Schild auf die „Nudelmesse“ hinweisen durfte. Bis zuletzt hatten die christlichen Kirchen versucht, der Scherzkirche zu verbieten, was ihnen erlaubt ist: Hinweisschilder auf die Zeiten, an denen Gottesdienste abgehalten werden, aufzustellen. Doch letztendlich war sogar die Kirche am Bürokratismus gescheitert. „Einen Scherz gibt es im Beamtenapparat nun einmal nicht. Ein Witz, und sei er noch so lächerlich, der allen formalen Anforderungen genügt, geht seinen Weg durch die Bürokratie“, sagt der UNO-Berater Andreas Dripke.
UNO: die größte Bürokratie der Welt
Die UNO wird in dem Buch als „die größte Bürokratie der Welt“ gebrandmarkt. Als Beleg hierfür wird angeführt, dass die regelmäßigen Beiträge, die alle Mitgliedsstaaten den Vereinten Nationen jährlich überweisen, überwiegend von den Personalkosten aufgezehrt werden. Hierzu heißt es im Buch: „Die Kriege, der Hunger, das Elend in der Welt – alles will ordentlich verwaltet werden. Sofern die UNO tatsächlich aktiv wird, um über die Verwaltungsakte hinaus den Menschen zu helfen, sind die Staaten gefordert, dafür extra zu zahlen, von den Friedenseinsätzen der Blauhelme über das Kinderhilfswerk bis zum Welternährungsprogramm.“
Das iPhone als Vorbild für Vereinfachung
Als Ausweg aus dem Bürokratismus raten die Autoren zu einer „konsequenten und alle Bereiche der Öffentlichen Hand durchdringenden Vereinfachung“. „Wir brauchen keine 3.700 verschiedenen DIN-Normen für das Bauen in Deutschland und keine 680 unterschiedlichen Verkehrszeichen“, sagt Hubert Nowatzki. Für ihre Forderung nach Vereinfachung greifen die Autoren auf eine Analogie aus der Technikwelt zurück. So heißt es in dem Buch (Zitat): Als das zwischenzeitlich verstorbene Tech-Genie Steve Jobs 2007 das iPhone vorstellte, trat es seinen Siegeszug nicht wegen seiner technischen Überlegenheit an, sondern weil es besonders einfach zu bedienen war. Man sah das Symbol eines Taschenrechners oder eines Briefumschlags auf dem Bildschirm, drückte darauf und konnte seine Berechnung beginnen bzw. den Posteingang kontrollieren. Die dahintersteckende Technologie, der berührungsempfindliche Screen mit Multitouch-Funktionalität und die aufwändigst programmierte Software, waren äußerst kompliziert, aber aus Sicht des Nutzers war das Gerät intuitiv bedienbar, also ohne Bedienungsanleitung. „Wenn es der Politik gelingt, Gesetze und Verordnungen zu entwickeln, die komplexe Sachverhalte für die Bevölkerung vereinfachen statt sie zu verkomplizieren, dann erledigen die gewählten Politiker ihre Aufgabe mit Bravour – andernfalls nicht“, sagt Hubert Nowatzki.
Erst vereinfachen, dann digitalisieren
Zur Vereinfachung genüge es allerdings nicht, die heutigen Behördenabläufe in Computersysteme zu verfrachten, warnen Dripke und Nowatzki. Sie verweisen auf repräsentative Umfragen, denen zufolge mehr als drei Viertel der Bürger mit dem heutigen Angebot an digitalen Verwaltungsservices unzufrieden sind. In der Gruppe der 18- bis 29-jährigen, die in einer digitalen Welt groß geworden sind, nutzen demnach zwar 90 Prozent die E-Government-Angebote, aber nur elf Prozent sind mit dem Angebot zufrieden. „Man muss erst vereinfachen und dann digitalisieren, nicht umgekehrt“, mahnt Andreas Dripke.
Innovative Vorschläge landen im Museum
Wie politisch schwierig eine Vereinfachung ist, zeigt das „Bierdeckel-Beispiel“: 2003 präsentierte der damalige stellvertretende Vorsitzende der CDU-Bundestagsfraktion und heutige CDU-Vorsitzende Friedrich Merz die Idee einer dreistufigen Einkommensteuer, die so einfach sein sollte, dass sie auf einen Bierdeckel passt. Das Konzept sah nur drei Steuersätze und den Wegfall zahlreicher Steuervergünstigungen vor. Außerdem sollte es statt der sieben Einkunftsarten im deutschen Steuerrecht nur noch vier geben. „Der Bierdeckel ist heute in einer Vitrine im Bonner Haus der deutschen Geschichte ausgestellt, geradezu als Symbol dafür, wie die Politik mit innovativen Vorschlägen umgeht“, moniert Hubert Nowatzki. Ebenso unbeachtet blieben die Vorschläge des ehemaligen Verfassungsrichters Paul Kirchhof. 2011 legte er auf beinahe 1.300 Seiten ein „Bundessteuergesetzbuch – Ein Reformentwurf zur Erneuerung des Steuerrechts“ vor. Aus den mehr als 200 Steuergesetzen sollte ein einziges Gesetz werden und die fast 40 Steuerarten könnten auf vier reduziert werden. Hubert Nowatzki sagt: „Jede derart rigorose Vereinfachung wurde in einer Kakophonie der Gegenargumente zertrampelt. Geblieben ist ein Steuersystem, das weiterhin so kompliziert ist, dass es selbst von Experten häufig nicht in allen seinen Verästelungen verstanden wird.“
Daher lautet das Plädoyer der beiden Autoren (Zitat aus dem Buch): Ein Parlament, das sich um die Zukunft Deutschlands sorgt, und das ist die Aufgabe des Deutschen Bundestages, muss sich daran messen lassen, ob es gelingt, das Regelwerk des Staates auf ein Maß zu stutzen, das überschaubar, verständlich und für die Bevölkerung nachvollziehbar ist. Es wird immer einen konstruierten oder realen Fall geben, bei dem ein Gesetz mehr, eine genauere Präzisierung oder ein Ausnahmetatbestand besser gewesen wäre, zu mehr Gerechtigkeit geführt oder die Sicherheit erhöht hätte. Doch es ist ein Irrglaube, dass immer mehr Gesetze, Verordnungen, Verwaltungsvorschriften, Bußgeldkataloge oder sonstige Regularien, Rechtsnormen oder technische Standards zu einer besseren, sichereren und gerechteren Welt führen werden.
„Antrag auf Erteilung eines Antragformulars…“
Das Buch ist übrigens dem Songwriter Reinhard Mey gewidmet. Mit seiner 1977 veröffentlichten Ballade über den „Antrag auf Erteilung eines Antragformulars zur Bestätigung der Nichtigkeit des Durchschriftexemplars, dessen Gültigkeitsvermerk von der Bezugsbehörde stammt, zum Behuf der Vorlage beim zuständ’gen Erteilungsamt“ sei er dem Wesen der Bürokratie so nahegekommen, wie es nur möglich ist.
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